Josef Muhr liest aus dem Werk
Vornehmlich nach der Übersetzung von Heinrich Voß
Homer lässt sich als eine der unentbehrlichen geistigen Säulen Europas bezeichnen. Kein Buch – die Bibel ausgenommen – übertrifft die noch immer lebendige Wirkung seiner Schriften. Wer Homer sagt, sagt Griechenland und sagt Epos. „Ilias“ und „Odyssee“ sind im Weltmaßstab die großen Vorbilder epischer Kunst überhaupt.
Der Philosoph Theodor W. Adorno sah in Odysseus den ersten modernen Menschentyp in der Literaturgeschichte: Er sei der erste literarische Charakter, der sich nicht den Göttern und dem Schicksal ergebe, sondern – manchmal unter Leugnung seiner Identität – erfolgreich gegen beide ankämpfe und damit zum Herrscher über sein eigenes Geschick werde. Der moderne Mensch müsse wie Odysseus fähig sein, seine Identität aufzugeben, um sie zu erhalten.
Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung,
vieler Menschen Städte geseh’n und Sitte gelernt hat
und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet,
seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft …
Homers „Odyssee“ entstand etwa Mitte bis Ende des 8. Jh. vor Christus, gewissermaßen an der Wiege Europas. In der von Josef Muhr zusammengestellten Textauswahl wird das homerische Epos der Odyssee ausschließlich in deutscher Sprache vorgestellt und als die europäische Urform der literarischen Erzählung schlechthin erfahrbar gemacht. Anhand der deutschsprachigen Übertragung von Johann Heinrich Voß gelingt es Muhr, den epischen Erzähler Homer als den „raunenden Beschwörer des Imperfekts“ (Thomas Mann) zu Wort kommen zu lassen.
Dabei eröffnen sich im ersten Teil durchaus überraschende und kulturgeschichtlich faszinierende Einblicke in das Lebensgefühl und die Mentalität der mittelmeerischen Gesellschaft um 700-750 vor Christus.
Im zweiten Teil der Lesung geht es dagegen vor allem, wie man heute zu sagen pflegt, um den „Action-Teil“, also um die eigentlichen Abenteuer, die Odysseus vor seiner Heimkehr zu überstehen hatte und die er am Hofe des Phäaken-Königs Alkinoos auf dessen Drängen hin (als früher literarischer Ich-Erzähler) zum besten gibt (das bekannteste ist wohl die Blendung des Kyklopen, aber auch die Begegnung mit den Seeungeheuern Skylla & Charybdis, mit der Zauberin Kirke bzw. Circe oder mit den Sirenen sind ja nicht ganz unbekannt geblieben).
In beiden Programmteilen, die selbstverständlich auch unabhängig voneinander, also einzeln „buchbar“ sind, erfährt die übersetzerische und sprachgestalterische Leistung von Johann Heinrich Voß (1751-1826) ihre verdiente Würdigung.
Learning by Hearing!
Dauer: jeweils 2 Stunden